Abgestempelt für die Ewigkeit? Georgiens langer Weg aus der sowjetischen Vergangenheit

Autor: Mikheil Sarjveladze

Doktorand an der a.r.t.e.s Graduate School for the Humanities Cologne/Universität zu Köln, Studiengang / Fachrichtung: Sozialwissenschaften

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Nachfolgestaaten der Sowjetunion? Postsowjetischer Raum? Sind diese Bezeichnungen noch zeitgemäß nach einem Vierteljahrhundert seit dem Zerfall der Sowjetunion? Deutet deren Gebrauch u.a. auch in der deutschen Sprache nicht darauf hin, dass sich die westeuropäischen Staaten nicht ausreichend für Osteuropa interessieren?

Anfang Januar machten die Botschafter der baltischen Staaten in Deutschland, die Redaktion der ZEIT ONLINE auf den Untertitel einer ZEIT-ONLINE-Serie „wie es den Nachfolgestaaten der Sowjetunion 25 Jahre später geht“ aufmerksam und betonten, dass dieser Sprachgebrauch sowohl historisch als auch völkerrechtlich falsch sei. Vor allem weil die baltischen Staaten 1940 gewaltsam besetzt und gegen ihren Willen in die Sowjetunion eingegliedert wurden. Außerdem wurde die darauffolgende Annektierung von den meisten westlichen Staaten de jure nicht anerkannt. Daraufhin revidierte ZEIT ONLINE den Untertitel.

Georgien – ein Nachfolgestaat der Sowjetunion? 70 Jahre im sowjetischen Imperium

Baltische Staaten sind nicht die Einzigen, die zu Unrecht als Nachfolgestaaten der Sowjetunion bezeichnet werden, dazu gehört v.a. auch Georgien. Die Erste Georgische Demokratische Republik, gegründet 1918 mit deutscher Unterstützung, war für den damaligen Zeitpunkt eine Vorzeigedemokratie. Dennoch konnte die erste Republik nicht lange existieren, da sie Anfang Frühling 1921 von den Bolschwiki okkupiert und später zwanghaft in die Sowjetunion eingegliedert wurde. Obwohl ein Jahr davor, also im Mai 1920, Sowjetrussland die georgische Republik als unabhängigen Staat anerkannte. Die rechtmäßige, vom Volk gewählte georgische Regierung, sah sich nach mehrwöchigen Kämpfen gezwungen nach Frankreich zu emigrieren.

Ab diesem Zeitpunkt verbrachte die georgische Gesellschaft, die nicht nur aus ethnischen Georgiern, sondern auch aus Aserbaidschanern, Armeniern, Abchasen, Osseten besteht, 70 Jahre im totalitären Staat – Sowjetunion. Der neue Mensch – der Sowjetmensch sollte entstehen, der sich dem System ergeben solle. Terrorwellen und Repressalien gegen die eigenen Bürger wurde eine Normalität. Die letzte Phase der Sowjetunion, als der Staat langsam in den bodenlosen Tiefen der Schattenwirtschaft verschwand und Kommunismus längst ferner schien als fernste Universen, führte zusätzlichen zur Demoralisierung der Menschen. Sie belogen den Staat, sich gegenseitig und sich selbst. Die Auswirkungen dieser Zeit sind in vielen Staaten immer noch zu spüren und sie finden den Ausdruck u.a. in der totalen Korruption, Vorliebe zur Steuerhinterziehung, Existenz „überstaatlicher“ Autoritäten, usw.

Kriege und Leid als Erbe der Sowjetunion

Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde das als „Paradies der Sowjetunion“ gepriesene Georgien eines der ärmsten Staaten in der Region. Moskaus unterstützter Separatismus, steigender Nationalismus, drei Kriege, Kriminalität und eine zusammengebrochene Wirtschaft prägten die ersten Jahre des jungen Staates. Besonders schwer getroffen wurde Georgien von den Sezessionskriegen in Abchasien und der Zchinvali-Region (Südossetien).

Moskau anerkannte beide abtrünnige Gebiete 2008 völkerrechtswidrig als unabhängige Staaten, hält sie aber gleichzeitig okkupiert. Russland finanziert faktisch komplett die s.g. Staatshaushalte. In den beiden Gebieten, also auf dem Territorium Georgiens sind russische Militärbasen gegen den Willen des georgischen Staates stationiert. Die Wurzeln der ethno-territorialen Konflikte liegen zum großen Teil in der aufgezwungenen, sowjetischen Vergangenheit. Weder Georgier, noch Abchasen oder Osseten haben sich vor dem Auftauchen der Bolschewiki gegenseitig bekämpft. Im Rahmen der Nationalitätenpolitik wurden in Georgien autonome Gebiete eingerichtet, um die s.g. Titularnationen besser kontrollieren zu können. Es gab nicht einmal die Bezeichnung „Südossetien“, die ein Produkt der sowjetischen Nationalitätenpolitik ist.

Wiederherstellung der Unabhängigkeit

Die Wiederherstellung der georgischen Staatlichkeit erfolgte am 9. April 1991. Exakt zwei Jahre davor zerschlugen sowjetische Soldaten eine friedliche, antisowjetische Demonstration auf den Straßen von Tbilisi mit Panzern, Spaten und Giftgas. 21 Menschen starben und mehr als hundert Menschen wurden z.T. schwer verletzt. Im Januar 1990 ereignete sich das Gleiche in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku, wo die Opferzahl deutlich höher ausfiel. Am 14. Januar 1991 töteten sowjetische Soldaten 14 Menschen in Vilnius (Litauen) und verletzten mehrere hundert Demonstranten, weil sie im Unabhängigkeitskampf den Fernsehturm friedlich zu verteidigen versuchten.

Die am 9. April 1991 erklärte Wiederherstellung der Staatlichkeit Georgiens basierte auf der Unabhängigkeitserklärung vom 26. Mai 1918, als die erste Georgische Demokratische Republik ihre Unabhängigkeit erklärte. Vor dem 9. April 1991 fand ein Referendum über die Wiederherstellung der Unabhängigkeit statt, an dem sich von 3.657.477 Wahlberechtigten, 3.302.572 Menschen, also 90,3% aller Wähler, beteiligte. Der Unabhängigkeit stimmten 98,9% der Beteiligten zu, die 89,3% aller Wahlberechtigten im Land ausmachten.

25 Jahre Freiheit unter dauernder Gefahr

25 Jahre sind seitdem vergangen. Georgien erlebte in diesen Jahren mindestens 4 Kriege. Die Menschen in Georgien haben vieles verloren, aber nicht ihr Streben nach der Unabhängigkeit. Es ist nicht einfach sich weiterzuentwickeln, wenn 20% des Territoriums von Russland okkupiert sind und von Moskau ständig Salz in die Wunden gestreut wird in Form von Stacheldrahtzaun um die Zchinvali-Region oder Verschiebung der Okkupationslinie ins Innere Georgiens. Georgien ist dennoch trotz aller Probleme eine etablierte Demokratie, in der freie Wahlen, Presse- und Meinungsfreiheit gewährleistet sind. Georgien ist eines der wenigen Länder aus dem abgestempelten „postsowjetischen Raum“, das die Korruption und Kriminalität bekämpfte und maximal reduzierte. Das Ergebnis ist die steigende Zahl von Touristen, die längst jährlich die Einwohnerzahl Georgiens übertrifft. Georgien integriert sich erfolgreich in die NATO und EU und bald werden georgische Staatsbürger ohne Visum in die EU einreisen können. Damit kommt ein langer, aber erfolgreicher Prozess (seit 2012) zum erfolgreichen Abschluss.

Ein wichtiger Bestandteil der Visafreiheit zwischen der EU und Georgien ist der Aussetzungsmechanismus, der eine Ventilfunktion hat. Im Fall der Zunahme der Asylanträge (die kaum Chancen auf Genehmigung haben) oder Verstöße gegen die erlaubte Aufenthaltsdauer, kann die Visafreiheit von der EU ausgesetzt werden. Nicht nur Georgien ist an der EU interessiert, sondern auch umgekehert. In diesen Zielen spielt Georgien als Transitweg und als Brücke zu kaspischen und zentralasiatischen Räumen sowie zum Iran für die Diversifizierung der Energieimporte und Handelsbeziehungen der EU eine wichtige Rolle.

Auflösung alter Bilder

Georgien ist längst kein „Nachfolgestaat der Sowjetunion“ mehr oder besser gesagt, Georgien war es nie. Versteht man den Raum, als „geografisch oder politisch unter einem bestimmten Aspekt als Einheit verstandenes Gebiet“ (laut Duden) ist die Bezeichnung „postsowjetischer Raum“ ebenfalls ein Irrtum. Georgien hat alles Mögliche in die Wege geleitet, um sich vom Gesamtmuster der Staaten loszulösen, die aufgrund ihrer Demokratiedefizite, autoritären (z.T. ex-kommunistischen) Eliten, Korruption und anderer Merkmale quasi zusammengetan werden. Vor allem weil es davon ausgegangen wird, dass diese Staaten den Zerfall der Sowjetunion und den Transformationsprozess nicht verkraften konnten. Deshalb werden z.B. die baltischen Staaten kaum mehr zum „postsowjetischen Raum“ zugeordnet, weil sie inzwischen Mitglieder der EU und NATO sind.

Die Bezeichnung „Nachfolgestaaten der Sowjetunion“ ist (wie die Botschafter der baltischen Staaten es korrekterweise anmerkten) nicht nur historisch und völkerrechtlich falsch, sondern sie impliziert einen aktuellen aber aus der Vergangenheit aufgezwungenen Bezug auf die Sowjetunion. Europa endet nicht an den Ostgrenzen der EU, Europa ist mehr und Georgien ist ein Teil Europas. Deshalb wäre es wichtig mehr historische Sensibilität zu zeigen, in dem man die Staaten nicht als Nachfolger dessen bezeichnet, unter dem diese Staaten zwangsweise zum ewigen Leid verdammt wurden.

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